Zu nett? Warum nett sein nicht automatisch gut ist
In den meisten Büros fallen Sätze wie: „Frag‘ doch einfach den Kollegen Meier. Der macht das bestimmt.“ Und häufig übernimmt ein Kollege Meier die Aufgaben, die anderen Kollegen unliebsam sind. Denn Herr Meier ist eben nett. Vielleicht sogar zu nett? Dass nette und zuvorkommende Kollegen oft über Gebühr beansprucht werden, ist kein Geheimnis. Doch für die zu nette Person selbst kann es noch weitere Nachteile haben, wenn sie schlecht Nein sagen kann.
Bin ich zu nett? Das könnte darauf hindeuten
Zunächst würde man vermutlich nicht erwarten, dass nett sein ein Problem sein könnte. Schließlich ist es eine positive Eigenschaft, die auch dazu beiträgt, dass es seltener zu Konflikten kommt – beruflich wie privat.
Dass auch andere Personen diese Eigenschaft an ihren Mitmenschen schätzen, zeigen die verschiedenen Synonyme, die das Wort nett hat, etwa:
- zuvorkommend
- freundlich
- liebenswert
- im Wesen ansprechend
Das alles sind Begriffe und Umschreibungen für positive Eigenschaften. Diese Eigenschaften müssen jedoch für die Person, die so wahrgenommen wird, nicht nur positive Auswirkungen haben. Denn wer eher nachgibt und die eigenen Bedürfnisse hintenanstellt, läuft Gefahr, ausgenutzt zu werden.
Sollten Sie einige der folgenden Eigenschaften oder Verhaltensweisen bei sich selbst entdecken, könnte das ein Hinweis darauf sein, dass Sie sich hin und wieder zu nett verhalten.
1. Sie übernehmen oft Aufgaben von Kollegen
Natürlich ist es eine gute Sache, hilfsbereit zu sein und seinen Kollegen am Arbeitsplatz auszuhelfen. Wer jedoch zu nett ist, hat von seiner Hilfsbereitschaft manchmal selbst nicht allzu viel. Denn schnell werden zu nette Kollegen von anderen Beschäftigten als Ja-Sager wahrgenommen.
Bedeutet: Hat Kollege XY keine Lust auf eine Aufgabe, aber eigentlich Zeit dafür, fragt er Sie. Er weiß nämlich, dass Sie sehr nett sind und mit großer Wahrscheinlichkeit Ja sagen werden.
2. Sie bekommen selten Anerkennung für Ihre Arbeit
Die Kollegen möchten häufig Aufgaben an Sie abgeben, weil es sich dabei um Tätigkeiten handelt, die viel Zeit in Anspruch nehmen und keinen großartigen Profilierungswert haben. Das ist ein Nachteil für Sie. Denn bei Ihrem Arbeitgeber kommt so nur an, dass Sie ständig mit Routinetätigkeiten beschäftigt sind, während andere Kollegen Projekte vorantreiben.
Wenn Mitarbeiter nicht aus der Masse hervorstechen, sondern unsichtbar bleiben und den Eindruck erwecken, lediglich Dienst nach Vorschrift zu leisten, werden sie in der Regel nicht befördert. Im schlechtesten Fall heißt das für Sie: Sind Sie zu nett, werden Sie zwar mit Aufgaben zugeschüttet, erhalten dafür aber kein Dankeschön und die Karriere bleibt dabei auch noch auf der Strecke.
3. Sie werden nicht nach Ihrer Meinung gefragt
Da Sie als Mitarbeiter häufig unsichtbar bleiben, fragt Sie niemand nach Ihrer Meinung. Das gilt sowohl bezüglich Entwicklungen in der Firma als auch beim Thema Freizeit. Wann und wo das nächste Betriebsfest stattfinden soll, wird nicht selten ohne Sie beschlossen. Sie würden ja ohnehin zustimmen, da kann man Ihnen das Ergebnis auch einfach im Anschluss mitteilen. Ein Teil des Teams zu sein, fühlt sich anders an.
4. Sie erhalten keine Förderung
Die eigene Karriere wird durch die Nettigkeitsfalle noch auf andere Weise gefährdet: Warum sollte man einen Mitarbeiter fördern, der sich damit zufriedengibt, jahrelang nur Routinetätigkeiten zu übernehmen, während andere Kollegen interessante Projekte managen oder zahlungskräftige Kunden akquirieren?
Zu nett zu sein führt häufig auch dazu, dass Fortbildungen, Weiterbildungen oder andere Möglichkeiten, sich beruflich weiterzuentwickeln, ohne Sie ablaufen, sie gar nicht dafür in Betracht kommen. Wer jahrelang beruflich auf der Stelle tritt, weil er zu nett ist, muss sich permanent um langweilige Aufgaben kümmern und geht in puncto Gehaltserhöhung häufiger leer aus.
Ich bin zu nett für diese Welt – was kann ich tun?
Weiter oben haben wir uns angesehen, welche Auswirkungen es haben kann, wenn Sie im Beruf zu nett sind. Natürlich laufen Menschen, die von anderen als Ja-Sager wahrgenommen werden, auch im Privatleben Gefahr, ausgenutzt zu werden.
Das kann auf Dauer zu Frustration führen. Und dieser Frust hat das Potenzial, sich zu einem ernstzunehmenden Konflikt zu entwickeln.
Häufig sind Menschen, die sich zu nett verhalten, nämlich gar nicht uneingeschränkt damit einverstanden, wie sie behandelt werden. Frust und Unmut darüber stauen sich so lange an, bis sie sich vielleicht explosionsartig in einem Wutanfall entladen.
Exkurs in die Psychologie: Warum wir zu nett sind
Stellt sich also die Frage, warum sich einige Personen so verhalten, obwohl sie die Folgen ihres Verhaltens nicht begrüßen.
Die Gründe dafür liegen in der Evolution und Sozialisation des Menschen. Vereinfacht gesagt waren wir in früheren Zeiten extrem auf den Schutz durch die eigene Gruppe angewiesen. Wer sich allein durch die Steppe schlagen musste, überlebte nicht lange. Eine Jagd war allein fast unmöglich zu bewerkstelligen. Wurde man verstoßen, bedeutete das also häufig den sicheren Tod.
Auch heute wirkt dieses Erbe noch nach. Nur die wenigsten von uns sind offensiv auf der Suche nach Konflikten mit der Gruppe. In der Regel sind wir eher bestrebt, Konflikte zu vermeiden und die Harmonie in der Gruppe zu stärken. Nett sein kann also die Bindung zur eigenen Gruppe stärken.
Die Psychologie sieht aber auch die jüngere, eigene Vergangenheit als Grund dafür, dass einige Personen es mit dem Nett-Sein übertreiben. Kinder, die von ihren Eltern nur dann Aufmerksamkeit, Anerkennung und vielleicht sogar Liebe erfahren haben, wenn sie sich extrem nett verhielten, sind auch im Erwachsenenalter noch auf so ein Verhalten konditioniert.
Das kann dazu führen, dass man sich auch in späteren Beziehungen oder am Arbeitsplatz häufig zu nett verhält und die eigenen Bedürfnisse und Wünsche missachtet – und sich damit selbst schadet.
Ausweg aus der Nettigkeitsfalle
Was können Sie tun, wenn Sie zu nett sind und mit den Nachteilen zu kämpfen haben? Zum Beispiel die folgenden Tipps ausprobieren. Wenn Sie jedoch das Gefühl haben, dass auch diese Tipps Ihnen nicht helfen, weniger ausgenutzt zu werden, sollten Sie vermutlich professionelle Hilfe suchen. Ein Psychologe oder ein anderer Fachmann, der sich mit Verhaltenstherapie auskennt, kann Ihnen Wege aufzeigen, wie Sie zukünftig zwar noch nett, aber nicht mehr zu nett sind.
Bevor es soweit ist, können Sie es allerdings erst einmal hiermit versuchen:
- Nein sagen üben: Nein zu sagen fällt vielen Personen, die zu nett sind, schwer. Es ist aber der erste Schritt dahin, sich vor der Ausbeutung zu schützen. Denn leider ist es so, dass einige Kollegen nicht von selbst auf die Idee kommen werden, Sie mit unliebsamen Aufgaben in Ruhe zu lassen. Es hilft also nichts: Sie müssen Anfragen von Kollegen auch ablehnen können. Das bedeutet nicht, dass Sie Ihren Kollegen von heute auf morgen mehr helfen sollen. Sie reduzieren lediglich die Frequenz und den Umfang Ihrer Hilfe. Wenn ein Kollege Sie in Zukunft wieder einmal fragt, ob Sie seine Arbeit übernehmen, sagen Sie, dass Sie sich zunächst einen Überblick über Ihre eigenen Aufgaben und Deadlines verschaffen müssen. Vielleicht fragt Ihr Kollege dann nicht noch einmal nach. Falls doch, können Sie immer noch entscheiden, ob Sie ihm die Aufgabe abnehmen oder nicht.
- Eigene Bedürfnisse formulieren: Personen, die zu nett sind, fällt es häufig schwer, die eigenen Bedürfnisse zu formulieren und sich für diese einzusetzen. Was einige Personen übersehen: Die eigenen Wünsche und Bedürfnisse offen zu kommunizieren, hat nichts damit zu tun, dass man eine offene Konfrontation sucht. Im Gegenteil: Mitarbeiter, die zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und den Wünschen ihrer Kollegen, Kunden und Vorgesetzten vermitteln müssen, zeigen Konfliktfähigkeit, Kommunikationsstärke und Empathie. Das sind Eigenschaften, die die meisten Arbeitgeber sehr schätzen. Machen Sie sich also bewusst, dass das Einstehen für sich selbst und die eigenen Bedürfnisse positiv wahrgenommen wird und zu einem besseren Betriebsklima beitragen kann.
- Zu Entschlüssen stehen: Wenn sich die Kollegen über Jahre hinweg daran gewöhnt haben, dass Sie das tun, worum man Sie bittet, müssen Sie Geduld bewahren. Vermutlich werden die übrigen Mitarbeiter nur langsam lernen, dass Sie nun nicht mehr zu nett sind, sondern endlich für sich selbst eintreten. Das gelingt in der Regel jedoch nicht allein deshalb, weil sie einmal sagen, was Sie sich wünschen. Sie müssen Ausdauer beweisen. Sie müssen Ihren Kollegen beweisen, dass Sie nicht mehr jede Aufgabe übernehmen. Wichtig für Sie, wenn Sie aus der Nettigkeitsfalle entkommen möchten, ist daher, dass Sie zu Ihrer Entscheidung stehen. Wenn Sie dem Kollegen gesagt haben, dass Sie ihm nicht helfen können, bleiben Sie auch dabei. Lassen Sie sich nicht von der vierten Nachfrage dazu nötigen, die Arbeit doch zu übernehmen. Gerade am Anfang erfordert das viel Durchhaltevermögen. Doch nach einer gewissen Zeit werden die Kollegen merken, dass Sie zu Ihren Entschlüssen stehen und Sie nicht mehr bedrängen.
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