Fachkräftemangel: Mythos oder Realität?
Immer wieder ist davon die Rede, dass es in Deutschland einen Fachkräftemangel gebe. Aber was bedeutet das eigentlich – und stimmt es tatsächlich? Welche Branchen sind von einem Fachkräftemangel betroffen? Und was kann man tun, um die Situation in Engpassberufen perspektivisch zu verbessern? Darum geht es in diesem Artikel.
Fachkräftemangel: Was bedeutet das?
Klären wir zunächst, was ein Fachkräftemangel überhaupt bedeutet. Gemeint ist eine Situation, in der es einen Mangel an ausreichend qualifizierten Arbeitskräften in bestimmten Bereichen gibt. Für freie Stellen gibt es zu wenige geeignete Bewerber, so dass viele Positionen und Ausbildungsplätze oft lange Zeit unbesetzt bleiben.
Unterschieden werden muss der Fachkräftemangel von einem Arbeitskräftemangel. Es geht beim Fachkräftemangel explizit um einen Mangel an Fachkräften, die bestimmte Qualifikationen aufweisen. An Arbeitskräften – zu denen neben hochqualifizierten auch geringqualifizierte Menschen gehören – muss es dabei insgesamt nicht zwingend mangeln.
Eine Fachkraft hat in aller Regel studiert oder eine Berufsausbildung erfolgreich abgeschlossen. Welche Qualifikationen nötig sind, um von einer Fachkraft sprechen zu können, hängt darüber hinaus vom Job und den Anforderungen an die Bewerber ab. Ein Fachkräftemangel kann großflächig sein oder nur bestimmte Regionen betreffen. Es ist jedoch meist so, dass ganze Wirtschaftszweige grundsätzlich davon betroffen sind. In manchen Unternehmen mag der Mangel nicht ausgeprägt sein, während andere große Firmen Probleme haben, offene Stellen zeitnah zu besetzen.
Gibt es in Deutschland einen Fachkräftemangel?
Einerseits ist immer wieder davon die Rede, dass es in Deutschland einen Fachkräftemangel gebe. Andererseits gibt es weniger Stellen als Arbeitnehmer beziehungsweise Bewerber. Im Februar 2021 lag die Zahl der Arbeitslosen bei 2,9 Millionen, was einer Arbeitslosenquote von 6,3 Prozent entspricht. Fachkräftemangel und Arbeitslosigkeit – wie passt das zusammen?
Zunächst einmal ist der Unterschied zwischen Arbeitskräften und Fachkräften entscheidend. Nicht jeder Arbeitslose ist eine Fachkraft. Somit kann es durchaus einen Fachkräftemangel bei gleichzeitiger Arbeitslosigkeit geben.
Tatsächlich fehlen in vielen Bereichen qualifizierte Bewerber, was zu Problemen bei der Besetzung offener Stellen führt. Auch Bewerber für Ausbildungsplätze werden in vielen Bereichen dringend gesucht, wobei es in beiden Fällen teils große regionale Unterschiede gibt.
Im Zuge der Coronakrise hat sich die Situation noch verschärft, auch, weil es für Firmen schwerer geworden ist, ausländische Fachkräfte anzuwerben. Dabei war erst im Frühjahr 2020 das Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Kraft getreten, mit dem genau das leichter werden sollte. Die Zahl der Arbeitsvisa, die an Nicht-EU-Ausländer vergeben wurde, ist jedoch im Jahr 2020 stark gesunken.
Laut einer Analyse der Unternehmensberatung Boston Consulting Group aus dem Jahr 2015 könnte sich die Entwicklung bis zum Jahr 2030 weiter verschärfen. In Deutschland könnten dann, so die Prognose, bis zu 7,7 Millionen Arbeitskräfte fehlen, was sich unmittelbar auf die wirtschaftliche Lage auswirken könnte. Der mögliche wirtschaftliche Schaden des Mangels wird in der Studie auf bis zu 550 Milliarden Euro beziffert.
Mythos Fachkräftemangel?
Dabei ist umstritten, ob es überhaupt einen Fachkräftemangel in Deutschland gibt. Kritische Stimmen merken an, dass es einen bundesweit einheitlichen Fachkräftemangel in bestimmten Berufen nicht gibt. Deshalb ist auch vom Mythos Fachkräftemangel die Rede.
Unabhängig davon, ob man trotz regionaler Schwankungen von einem Mangel sprechen kann, verweisen andere Kritiker auf die Ursachen für den Fachkräftemangel. Wenn es lange dauert, bis eine Stelle besetzt ist, kann das auch heißen, dass der Arbeitgeber wählerisch ist. Auch die Rekrutierungsstrategie und das Employer Branding von Firmen spielen eine Rolle: In manchen Bereichen haben Bewerber die Qual der Wahl. Hat ein Unternehmen keinen guten Ruf, bietet es keine guten Arbeitsbedingungen und ist nicht modern, kann das bei der Besetzung freier Stellen zum Problem werden.
Viele Firmen bieten Bewerbern zu wenig, auch, weil sie in einer Anspruchshaltung verharren: Die Bewerber müssen überzeugen, nicht umgekehrt. Dabei kann nur ein Arbeitgeber Fachkräfte anlocken, der auch seinerseits zu überzeugen weiß. In diesem Zusammenhang spielen auch flexible Arbeitszeiten und Familienfreundlichkeit eine wichtige Rolle.
Schlechte Bezahlung und schlechte Arbeitsbedingungen als Teil des Problems
Wie wir im nächsten Abschnitt noch sehen werden, gibt es auch in Bereichen einen Fachkräftemangel, in dem die Anforderungen der Arbeitgeber an Bewerber vergleichsweise niedrig sind. Zugleich sind viele Engpassberufe schlecht bezahlt. Eric Seils, ein Referent der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, sieht das Problem denn auch nicht in der Anzahl der möglichen Arbeitskräfte. Vielmehr sind Unternehmen für einen Fachkräftemangel mitverantwortlich, wenn sie nicht bereit sind, angemessene Löhne zu zahlen. In Kombination mit schlechten Arbeitsbedingungen und körperlich oder psychisch anstrengenden Jobs ist kaum verwunderlich, dass die Zahl der Bewerber in bestimmten Berufen niedrig ist.
Nicht zuletzt trägt auch die demografische Entwicklung in Deutschland ihren Teil zum Fachkräftemangel bei. Die geburtenreiche Generation der Baby-Boomer geht nach und nach in Rente, während weniger jüngere Arbeitnehmer nachrücken. Auch das kann dazu führen, dass es einen geringeren Pool an passenden Bewerbern gibt.
In welchen Branchen werden Fachkräfte gesucht?
Unabhängig von den Ursachen hierfür ist es eine Tatsache, dass Fachkräfte in verschiedenen Branchen dringend gesucht werden. Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln gab es im Jahr 2018 in 391 von 753 betrachteten Berufen Fachkräfteengpässe.
Welche Bereiche sind betroffen? Die Bundesagentur für Arbeit gibt jährlich eine Engpassanalyse heraus, die zeigt, in welchen Berufen es schwer ist, Stellen zeitnah zu besetzen. Entscheidend für die Einstufung als Engpassberuf sind insbesondere das Verhältnis der offenen Stellen zur Zahl der Arbeitssuchenden und die Zeitspanne, innerhalb derer freie Stelle besetzt werden können.
Vereinfacht lässt sich sagen, dass vor allem Berufe von einem Fachkräftemangel betroffen sind, für die entweder ein relativ hoher Grad an Spezialisierung erforderlich ist oder die – durch die Tätigkeit an sich, die Arbeitsbedingungen oder das Gehalt – für Bewerber nicht attraktiv sind. Außerdem gibt es einen Fachkräftemangel ganz überwiegend in Berufen, die schwerpunktmäßig entweder von Männern oder von Frauen ausgeübt werden.
Fachkräftemangel im MINT-Bereich
Zu den von Männern dominierten Berufen, in denen es an Fachkräften mangelt, zählen vor allem solche, die eine gewerblich-technische Ausbildung erfordern. Das betrifft etwa die Ver- und Entsorgung, den Tiefbau, die Maschinen- und Fahrzeugtechnik und die Metallverarbeitung. Ein Fachkräftemangel ist auch im Handwerk in vielen Regionen vorhanden. Dazu gehören etwa der Garten- und Landschaftsbau und weitere Teile des Baugewerbes, es werden jedoch auch Fleischer, Fachverkäufer für Lebensmittelhandwerk und Klempner vielerorts dringend gesucht.
Relativ stark vom Fachkräftemangel betroffen ist auch der MINT-Bereich, der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik umfasst. Nach einer Prognose des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln werden in Deutschland bis zum Jahr 2031 fast 300.000 MINT-Fachkräfte fehlen. So gibt es etwa einen IT-Fachkräftemangel: Laut Statistischem Bundesamt hatten 66 Prozent der befragten Unternehmen in Deutschland im Jahr 2020 Schwierigkeiten, freie Stellen mit IT-Fachkräften zu besetzen.
Dass es besonders in vielen Ausbildungsberufen einen Mangel an fähigen Bewerbern gibt, ist sicherlich auch dem Trend zur akademischen Ausbildung geschuldet. Mehr Schulabgänger als früher strömen nach der Schule an die Unis, statt eine Lehre zu beginnen.
Fehlende Fachkräfte in Pflege und öffentlichem Dienst
Die ganz überwiegend von Frauen ausgeübten Berufe, in denen es einen Fachkräftemangel gibt, sind schwerpunktmäßig im Gesundheitssektor angesiedelt. Das betrifft insbesondere Pflegekräfte in Krankenhäusern und Seniorenheimen sowie bei ambulanten Pflegediensten. Hier wird der Mangel wohl noch größer werden, außerdem wird er durch die Coronakrise verschärft, weil viele Arbeitgeber auf ausländische Fachkräfte angewiesen sind. Diese kommen während der Krise in geringeren Zahlen nach Deutschland, was unter anderem an Reisebeschränkungen liegt.
Geschlechterunabhängig besteht außerdem in Teilen des öffentlichen Diensts ein Fachkräftemangel. Nach einer Studie des Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmens PricewaterhouseCoopers (PwC) könnten bis zum Jahr 2030 rund 816.000 Stellen im öffentlichen Dienst unbesetzt bleiben, weil es an qualifizierten Bewerbern mangelt. Betroffen sind etwa Lehrer, aber auch Teile der öffentlichen Verwaltung.
Wie kann ein Fachkräftemangel behoben werden?
Manchmal ist ein Fachkräftemangel nur von kurzer Dauer und erledigt sich nach einer gewissen Zeit von selbst. Das liegt dann meist daran, dass Unternehmen verstärkt um Bewerber werben und sich herumspricht, in welchen Bereichen dringend Fachkräfte gesucht werden. In der Folge ergreifen mehr junge Menschen einen entsprechenden Beruf und sättigen nach ihrer Ausbildung den Markt.
Mitunter ist das Defizit jedoch langfristig vorhanden. Wie man ihm entgegenwirken kann, hängt davon ab, wo die Ursachen für den Fachkräftemangel im jeweiligen Bereich liegen. Viele Berufe würden enorm davon profitieren, wenn sie für Schulabgänger attraktiver wären. Das kann ein höheres Gehalt voraussetzen, welches unbeliebte und körperlich anstrengende Tätigkeiten angemessener kompensieren kann. Einen harten Job, der noch dazu wenig Geld einbringt, übt eben nur jemand aus, der es sich nicht aussuchen kann. Perspektivisch werden unter diesen Umständen immer Bewerber fehlen.
Auch verbesserte Arbeitsbedingungen können dafür sorgen, dass ein Beruf attraktiver wird. Hier liegt der Ball insbesondere bei den Unternehmen selbst, die etwa familienfreundlich sein können, indem sie eine gute Work-Life-Balance ermöglichen. Positiv auf Bewerber wirken meist auch moderne Strukturen statt starrer Hierarchien, ebenso gute Übernahmechancen nach einer Ausbildung und allgemein gute Perspektiven.
Gezielte Qualifizierung als Instrument gegen den Fachkräftemangel
Es ist außerdem essenziell, dass Schüler schon frühzeitig auf Berufe aufmerksam gemacht werden, die eine (duale) Ausbildung voraussetzen. Dabei kann es hilfreich sein, mit klischeehaften Vorstellungen bestimmter Berufe aufzuräumen – etwa, dass technische Berufe Männern eben eher liegen würden oder Frauen die geeigneteren Pflegekräfte seien.
Das Institut der Wirtschaft in Köln empfiehlt als Maßnahme gegen den Fachkräftemangel, qualifizierte Frauen in qualifiziertere Jobs zu bringen. Im Vergleich zu Männern bewerben sie sich demnach aus der Arbeitslosigkeit heraus häufiger für Positionen, die eigentlich unter ihrem Qualifizierungsniveau liegen. Ebenso sinnvoll ist es, das Potenzial besser zu nutzen, welches Arbeitssuchende bieten. Sie können gezielt zu Fachkräften ausgebildet werden. Das kann auch eine individuellere Förderung und Vermittlung durch Arbeitsamt oder Jobcenter erfordern.
Ein weiterer Ansatzpunkt zur Behebung eines Fachkräftemangels ist es, Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind, schnell zu integrieren und sie entsprechend auszubilden. Auch Arbeitskräfte aus dem Ausland können den Mangel in vielen Bereichen ein Stück weit ausgleichen – obgleich attraktivere Bedingungen häufig ausreichend wären, um genügend Bewerber anzulocken, die sich bereits in Deutschland befinden.
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